Eine Stimme ruft nach mir, doch alles, woran ich denke, ist er. Der perfekte Junge aus meiner Klasse. Ich sehe ihn vor meinen Augen. Sein weisses Hemd schimmert im sanften Licht, seine pastellblauen Hosen erinnern mich an ein ruhiges, klares Meer und die ordentlichen, braunen, polierten Lederschuhe geben seinem Erscheinen ein formelles Aussehen.
«Mia!»
Nein, er heisst Jonas. Er scheint so perfekt zu sein, als käme er direkt aus einem Märchen. Ist er vielleicht, zu perfekt?
«Mia, kommst du mal?»
Plötzlich verblasst sein Bild und vor meinen Augen sehe ich Clara, die sich abmüht, die Bustür aufzuhalten. Mein Blick richtet sich zum Bus. Zügig, ohne zu zögern, jogge ich zu Clara, während die leichte herbstliche Bise in mein Gesicht bläst.
«Was war denn mit dir los?», wundert sich Clara, während wir zu einem freien Platz gehen, «du standest wie versteinert auf dem Bürgersteig.»
Doch ein Geruch von Leder und Desinfektionsmittel weckt meine Aufmerksamkeit. Es ist der Geruch, der jedes Mal im Klassenzimmer weht, wenn er präsent ist.
«Du bist wieder in deiner eigenen Welt, nicht wahr?»
«Es tut mir leid Clara», flüstere ich ihr zu, während ich versuche meiner Vorstellung zu entkommen, «seit ein paar Wochen bin ich in diesem Bild von Jonas gefangen. Ist er wirklich so perfekt, wie ich ihn mir vorstelle?»
«Du denkst schon wieder an Jonas?», fragt Clara verärgert, «er ist eine Schlange, ich weiss nicht, was du in ihm siehst.»
Eine Schlange? Was meint sie damit? Er ist alles andere als eine Schlange, oder? Plötzlich verliere ich meine Balance und kippe nach vorne, Clara konnte mich gerade noch so auffangen.
Die Türen öffnen sich, wir steigen aus und marschieren zur Schule. Der Himmel ist klar, es sind keine Wolken zu sehen. In dem Wissen, dass ich heute versuche Jonas näherzukommen, stosse ich die Schwingtür auf. Wir gehen den Gang entlang, wie immer sind die Flure überfüllt mit Menschen. Clara und ich quetschen uns durch die Menschenmenge zu unserem Klassenzimmer. Wie gewöhnlich ist noch niemand im Klassenzimmer. Gelangweilt sitzen wir dort und warten auf den Rest der Klasse.
Und immer noch bleibt mir die Frage, was Clara meint, dass Jonas eine Schlange ist?
Person für Person füllt sich langsam das Zimmer. Auf einmal rieche ich einen Hauch von Leder und Desinfektionsmittel. Ein weisses Hemd, pastellblaue Hosen und braune, polierte Lederschuhe, fallen mir sofort ins Auge. Sein lässiger Gang und sein Blick… Sein Blick, er schaut mich an! Mein Blick verfolgt ihn bis zu seinem Platz, während unser Klassenlehrer ins Zimmer spaziert.
«So, liebe Klasse», sagt er. Blitzschnell drehe ich mich nach vorne und schaue zum Lehrer. «Ihr werdet heute in Gruppen besprechen, wie man das Klassenklima verbessern kann.»
Er beginnt die Gruppen vorzulesen: «Ihr werdet in folgenden Zweiergruppen arbeiten: Nina und Sebastian, Matteo und Tobias, Mia und …» Ich kreuze meine Finger und schliesse meine Augen. «Clara.»
Ich schaue etwas enttäuscht zu Clara, lächle sie aber trotzdem leicht an.
«Jonas und… Oh, so wie es aussieht, haben wir eine ungrade Anzahl an Schülerinnen und Schüler. Jonas schliesse dich Clara und Mia an.»
Als ich das höre, fällt mir ein Stein von meinem Herz. Das ist perfekt, nun kann ich Jonas besser kennenlernen! Ich schaue zu Clara, die nicht besonders begeistert aussieht. Und Jonas? Ich drehe mich um, er schaute zum Fenster. Seine Lippen bleiben unbewegt und sein Körper ist angespannt. Seine Augenbrauen sind zusammengekniffen und er stützt seinen Kopf auf die gekreuzten Arme. Vielleicht hatte er nur einen schlechten Tag, versuche ich mir einzureden.
Clara und ich schieben unseren Tisch und den von Jonas zu einer Tischinsel zusammen. Jonas setzt sich als Erstes hin. Ohne zu zögern, setzt sich Clara so weit wie möglich von ihm entfernt. Ich schaue sie etwas verärgert an, während ich mich neben Jonas setze. Was soll ich sagen? Ich könnte mit einer Frage anfangen. Ja, das könnte funktionieren.
«Jonas, wie könnte man das Klassenklima verbessern, hast du eine Idee?»
Jonas schaut mich mit einem desinteressierten Blick an.
«Wir sollten klare Regeln setzen, die jeder befolgen sollte.»
«Wieso sollten wir Regeln einfügen?», fragt Clara.
«Ich finde seine Idee nicht mal so schlecht, genaue Regeln würden für Ordnung sorgen.»
«Ja, was auch immer sie gesagt hat.», fügt er monoton hinzu.
Was auch immer sie gesagt hat? Er wirkt so emotionslos und genervt, aber er scheint einfach weiter für sich zu arbeiten. Ich schaue zu Clara. Sie aber lehnt den Augenkontakt ab. Ich merke, wie meine Beine langsam anfangen zu zittern. Bleib ruhig Mia. Wenn du vielleicht deinen guten Vorschlag machst, wird er sehen, was für ein grossartiges, schlaues Mädchen du bist. Er wird sich dann sicher für dich interessieren.
«Ich finde die Idee mit den Regeln gut, aber anstatt starrer Regeln, könnten wir jede Woche ein Gespräch mit der ganzen Klasse organisieren. In so einem ‘Klassenrat’ können wir besprechen, was gut in der Klasse gelaufen ist, beziehungsweise welche Verbesserungsmöglichkeiten es gibt.»
Dieser Vorschlag weckt hoffentlich sein Interesse. Mein Bein hat aufgehört zu zittern. Ich warte auf eine Antwort. Beide drehen sich zu mir und vier Augen sind auf mich gerichtet.
Ich sass still da, als Clara anfängt zu reden: «Ich…»
«Das wird doch eh nicht funktionieren! Wir sollten lieber bei meiner Idee bleiben.»
Bevor ich auf seine Antwort eingehen konnte, ist er wieder in seiner Höhle gekrochen.
Ich schaue meine Beine und Hände an, die wieder angefangen haben zu zittern. Ich hätte das niemals von ihm erwartet. Ich habe ihn mir ganz anders vorgestellt. Er sollte doch der Junge sein, der für seine Freunde in der Not da ist, gerne mit anderen Menschen zusammenarbeitet, der immer mit einem Lächeln in die Schule kommt, egal was gerade los ist. Doch der Junge, der neben mir hockt, ist ganz anders. Er verhält sich fast wie eine Schlange.
Die Stunden an der Schule verfliegen wie im Flug. Clara ist schon früher gegangen, weil sie einen Zahnarzttermin hatte. Als ich endlich aus dem Schulgebäude war, eile ich sofort zur Bushaltestelle. Doch als ich dort ankomme, stelle ich mit einem Seufzer fest: Mein Bus ist längst abgefahren.
Auf dem Weg nach Hause geniesse ich das herbstliche Wetter. Das langsame Fallen der Blätter gibt mir ein beruhigendes und wohlfühlendes Gefühl. Es lenkt mich von Jonas ab, demJungen, von dem ich eine Zukunft erhoffte. Die Luft ist kühl und als ich den letzten Teil des Weges gehe, frage ich mich, ob er wirklich so ist oder ob er nur einen schlechten Tag hatte. Vielleicht sollte ich ihn noch nicht aufgeben.
«Du hattest doch recht, er ist eine Schlange», schreibe ich Clara.
Die Nacht bricht ein, ich bin erschöpft und leer. Der perfekte Junge, den ich mir erträumt habe, verschwindet langsam in die Dunkelheit.